Für Marion Claaßen dagegen eine offensichtliche Ursache dafür, dass der sensible und an sich begabte Grundschüler mit der Diagnose ADHS immer wieder abgelenkt wird. In einem auf zwei Jahre angelegten Projekt der Caritas Kleve geht sie an die vielschichtigen Wurzeln der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung bei Grundschülern.
Oft löst Claaßen mit ihrem Außenblick einen Aha-Effekt bei den Eltern aus und erlebt, dass schon kleine Veränderungen große Wirkung zeigen können. Möglich macht diesen neuen Ansatz der intensiven Arbeit in und mit den Familien die "Aktion Lichtblicke" der NRW-Lokalradios mit Caritas und Diakonie. die 24.000 Euro bewilligt hat. Dass die Idee funktioniert, sieht Helmut van Kempen, Fachbereichsleiter Jugend und Familie der Caritas Kleve, schon nach einem dreiviertel Jahr als erwiesen an. Er hofft, die Jugendämter davon überzeugen zu können, die weitere Finanzierung zu übernehmen. "Wenn wir die Kinder nicht im Grundschulalter erreichen, dann wid es mit 14 oft sehr schwierig," ist sich van Kempen sicher.
Das Problem drängt. Immer mehr Kinder kommen mit der Diagnose ADHS in die Beratung, beobachtet van Kempen. Bundesweit war ihre Zahl 2011 in nur fünf Jahren um 42 Prozent auf 620.000 gestiegen. Vor Ort ist für den Caritas-Mitarbeiter eine andere Zahl erschreckend. 48 Integrationshelfer der Caritas sind mittlerweile in den Schulen eingesetzt, die nicht nur, aber vor allem ADHS-Kinder täglich begleiten: "Das ist inzwischen unser größter Dienst im Bereich der Jugendhilfe," sagt van Kempen.
Das Problem drängt vor allem auch die Eltern. "Sie sind verzweifelt, wenn sie sich in der Schule anhören müssen, dass ihr Kind ein Problem ist," weiß Marion Claaßen. Sie kennt Fälle, in denen täglich der Anruf kommt, dass sie das Kind abgeholt werden soll. Und wenn es dann noch eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen wird, wird es schwierig, die Arbeit zu organisieren.
Sieben Paare und vier Alleinerziehende haben sich deshalb auf das ADHS-Projekt eingelassen, obwohl Claaßen ihnen nur einen "mühsamen Weg" anbieten konnte. Eingeschliffenes Verhalten muss hinterfragt und geändert werden. Erste Ansätze hierfür sieht die Sozialarbeiterin meist sehr schnell bei einem Hausbesuch. In mehreren Bausteinen versucht sie, gemeinsam mit Eltern und Kinder die Situation zu verändern. Dazu gehört ein Konzentrationstraining nach dem Marburger Modell und ein Entspannungstraining für die Kinder. Zudem werden die Schulen mit einbezogen.
Nicht zustande gekommen ist das Autogene Training für die Eltern. Das habe nicht nur an der Zurückhaltung der Männer gelegen, sondern vor allem an den Terminproblemen der Eltern. Zu wenig Zeit für die Kinder zu haben, sei gerade bei Kindern mit ADHS problematisch. Geholfen habe deshalb, dass einige Eltern ihre Arbeitszeit sowie ihre und die Termine der Kinder reduziert hätten.
Marion Claaßen begleitet die Familien eng. Immer wieder bespricht sie mit ihnen, welche Veränderungen noch notwendig und möglich sind. Gemeinsam werden die Fortschritte diskutiert und nachgesteuert. Mario beispielsweise macht seine Hausarbeiten jetzt in seinem eigenen Zimmer. Der Vater hat dort zwar auch sein Werkzeug und die Schwester auch einen Bereich für sich. Aber sie achten darauf, ihn nicht zu stören. Wichtig sei immer, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen.
Oft sind es "hochsensible, neugierige Kinder", die ADHS entwickeln, beobachtet Helmut van Kempen. Sie bräuchten einen "festen Erziehungsrahmen" und klare Strukturen. Das sei nicht immer einfach, vor allem wenn beide Elternteile berufstätig seien. Claaßen empfiehlt deshalb Rituale einzuführen und konsequent einzuhalten. Beispiele seien das gemeinsame Abendessen oder die immer gleiche Form des Zubettgehens.
Ein Thema in der Beratung sei immer die Medikation, so Claaßen. Alle Kinder im Projekt haben die Diagnose ADHS und kommen mit Ritalin über den Tag. Aber das könne nicht die Lösung sein, zumal die Wirkung nur den Vormittag anhalte und eine höhere Dosierung manchmal nicht mehr möglich sei. Um 5.000 Prozent sei der Verbrauch in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland gestiegen.
Dass es anders geht, wenn man verschiedene Ansätze der Hilfen kombiniert, erleben insbesondere die Kinder selbst. "Alles ist viel einfacher", habe ihr ein Junge zurück gemeldet, er habe wieder Freunde und zuhause sei alles viel entspannter. Ganz schnell hätten die Kinder die neuen Rituale gelernt.
Angelegt ist das Projekt auf zwei Durchgänge mit je zwölf Familien. Nicht alle werden wie geplant mit einem Jahr auskommen, sagt Marion Claaßen: "Für die werden wir keinen Schnitt machen". Für das zweite Jahr stehen bereits sechs neue Familien auf der Warteliste. Voraussetzung ist, dass ihr Kind mindestens die zweite Klasse einer Grundschule besucht und die medizinische Diagnose ADHS hat.
074-2014 18. August 2014