Thomas Velmerig hat das mehr als einmal erlebt. Ignoriert und mangels Geld auf Hartz IV die Erhöhungsstufen ausgesessen kann die Banalität in Erzwingungshaft enden. Dann zahlt das Jobcenter die Miete nicht mehr. Dann sind Velmerig und seine Kollegen in der Beratungsstelle für junge Erwachsene des Katholischen Sozialdienstes (KSD) Hamm gefragt. Noch häufiger sind allerdings der Rauswurf aus dem Elternhaus oder das abrupte Ende der Jugendhilfe Gründe für die Wohnungslosigkeit. Für 92 junge Erwachsene bemühte sich das Team zum statistischen Stichtag 30. Juni um Existenzsicherung und eine neue Perspektive im 180.000 Einwohner zählenden Hamm - so wie Stefan (25) und Antonia (23).
Die falsche Straßenseite war es bei Stefan nicht, eine kurze Haftzeit schon, die ihn aus der Bahn geworfen hat. "Nichts Schlimmes", versichert er, was Thomas Velmerig bestätigen kann. Er kennt ihn schon, seit er 18 ist und immer wieder versucht hat, selbstständig Fuß zu fassen. Erzieher wollte Stefan werden, konnte aber nicht rechtzeitig eine Masernimpfung vorweisen, die Ausbildung zum Fußbodenleger endete mit der Haft, die Arbeit im Straßenbau, weil der Chef nicht mehr zahlte. "Perspektivlosigkeit" nennt Stefan selbst als Grund, warum er jetzt erst einmal in einer der drei Wohnungen im KSD-Haus an der Wilhelmstraße untergekommen ist. Jetzt könnte der Neustart gelingen, das Probearbeiten im Garten- und Landschaftsbau gefällt ihm.
Wobei es "erst einmal nicht um Perspektive geht", wie Velmerig betont, sondern um Existenzsicherung. Ist die geschafft, "können wir weiter sehen". Steht ein junger Erwachsener bis 25 Jahre auf der Straße, wird er von der Stadt Hamm direkt an den KSD verwiesen. Das sind 240 bis 260 im Jahr, die Zahl bleibt ziemlich stabil und hat sich in der Corona-Zeit nicht erhöht - zumindest noch nicht.
Wohnungslos zu sein müsse man sich dabei nicht vorstellen als auf der Straße lebend und unter der Brücke nächtigend. Viele schlüpften als "Couchsurfer" bei Bekannten unter. Das ist für das KSD-Team allerdings keine dauerhafte Lösung. Ziel ist, eigenständiges Leben und Wohnen zu ermöglichen. Dieser Schritt ins Erwachsenenleben ist nicht so einfach, wie Antonia erfahren musste. Mit 17 Jahren fühlte sie sich dafür gerüstet und zog aus einer Jugendhilfe-Einrichtung in Münster aus. Um dann festzustellen, dass doch Grundlagen, angefangen beim Rätsel GEZ-Gebühr, fehlten. Von der Möglichkeit, eine Ausbildungsbeihilfe beim Jobcenter zu beantragen, hatte sie auch nichts gehört. Die Rechnungen wuchsen ihr über den Kopf trotz Arbeit im Einzelhandel, die Miete blieb sie schuldig, die Wohnung war futsch.
Den Antrag auf Beihilfe würde Thomas Velmerig für sie nicht ausfüllen, aber er weist auf die Möglichkeit hin und hilft dabei. Nach Antonias Erfahrung ist das der richtige Ansatz. Obwohl sie sich in einem Appartement mit einer Mitbewohnerin auf die Selbständigkeit habe vorbereiten sollen, sei ihr zuviel Papierkram abgenommen worden.
Jetzt hat sie in Hamm wieder eine Wohnung gefunden, finanziert sie aus eigener Arbeit und hat vor einem Jahr begonnen, ihren Realschulabschluss nachzuholen. Sie verfolgt einen festen Plan, um ihren Traumberuf als Flugbegleiterin zu erreichen. Auf die mittlere Reife soll ein Jahr in England oder den USA folgen, um dafür gut Englisch zu lernen.
Anders als Antonia, die freiwillig aus der Jugendhilfe-Einrichtung ausgezogen ist - Differenzen mit den Betreuenden deutet sie an und dass sie selbst auch nicht immer einfach war -, ist fast ein Drittel der vom KSD betreuten jungen Erwachsenen mehr oder weniger aus der Jugendhilfe herausgefallen. Mit 18 Jahren endet sie erst einmal offiziell und nicht alle Jugendämter nutzen die Möglichkeiten darüber hinaus reichender Hilfen. "Das ist beschämend", ärgert sich Velmerig. Da gebe es viel zu wenige Übergangsmöglichkeiten.
Zur Hälfte sei der Rauswurf aus der Familie ein weiterer Grund für die Wohnungslosigkeit. Weitere 20 Prozent verlieren aus verschiedenen Gründen ihre Wohnung und die restlichen zehn Prozent seien Entlassung aus Haft oder psychiatrischen Einrichtungen.
Damit sind die Grundbedingungen unterschiedlich und muss der Unterstützungsansatz es ebenso sein. Thomas Velmerig ist da heilfroh, dass die Arbeit der Beratungsstelle aus mehreren Töpfen finanziert wird: "Wir können damit aus einem Katalog der Hilfen das Passende wählen." An mehreren Standorten verfügt der KSD über eigene Wohnplätze mit unterschiedlicher Betreuungsintensität. Aber zumeist finden sich Wohnungen auf dem freien Markt. Single-Wohnungen seien ein Problem, er rate dann, es zunächst mal mit einer WG zu versuchen. Für 4,50 Euro pro Quadratmeter lasse sich durchaus was in Hamm finden. Das lasse sich mit der Miete, die das Jobcenter bereit sei zu übernehmen, finanzieren.
Wenn es Fragen gibt oder Probleme nicht selbst gelöst werden können, hilft der Gang in den zweiten Stock an der Wilhelmstraße über dem Stadtteilbüro Hamm-Westen des KSD. Der fällt nicht schwer, der Umgangston ist locker, vertraut in der langjährigen Beziehung. Stefan sitzt auf dem blauen Sofa neben dem Schreibtisch, auf dessen Rücklehne ein großer Plüschtiger liegt, den Thomas Velmerig mal vor dem Sperrmüll gerettet hat. Vier kleine Tiger hat er passend dazu gekauft, einer davon behütet Antonia.
So betreut werden noch viel zu Wenige. Bundesweit haben 37.000 junge Erwachsene unter 25 Jahren keinen festen Wohnsitz, nach Schätzungen sind das 20 Prozent aller Wohnungslosen.
074-2021 (hgw) 10. September 2021