Wenn der Entwurf den Bundestag in der derzeitigen Form passiert und möglicherweise schon im kommenden Jahr umgesetzt wird. Gerold Abrahamczik als Vorsitzender des Angehörigen-Beirats im Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) hofft auf ein Scheitern und erfuhr am Sonntagmorgen in Haus Hall in Gescher Unterstützung in seiner Kritik von Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann und dem Direktor von Haus Hall, Dr. Thomas Bröcheler.
Schwere Kost wurde der Caritas auf ihrer Jubiläumstour und den teilnehmenden Angehörigenvertretern aufgetischt: Ein 359 Seiten umfassender juristischer Gesetzestext, den bislang auch kaum einer der Volksvertreter kennt, die in Kürze darüber abstimmen sollen. Der es aber für die Fachleute in sich hat und das Gegenteil von dem bewirken könnte, was er ursprünglich sollte. Mehr Teilhabe und individuellere Hilfen sollte ein grundlegend neues Behindertenrecht erreichen. Wohl mindestens 100 Millionen Euro mehr für Verwaltung und entsprechend weniger für Betreuung sieht Bröcheler im Ergebnis. Vorteilen für wenige Menschen mit Behinderungen, die ihre Interessen vehement vertreten können, werden Nachteile für viele mit schweren und schwersten Behinderungen gegenüber stehen, "die keine Lobby haben", sagt Abrahamzik. Vor allem die, die künftig neu auf Hilfe angewiesen sein werden und nicht mehr unter den "Bestandsschutz" fallen.
Der Gesetzentwuf "verhindert mehr Teilhabe", erklärte Heinz-Josef Kessmann. Dass alle Fachverbände ihn ablehnten, müsse der Regierung eigentlich zu denken geben. Die Caritas müsse prüfen, ob der Gesetzentwurf die angestrebten Ziele überhaupt erreichen könne und ob noch Verbesserungen möglich seien.
Doch die Zeit läuft ab, es gebe den Willen, ihn in wenigen Wochen durch die Beratungen zu zwingen, um ihn noch in dieser Legislaturperiode beschließen zu können. Gelinge das nicht, so Kessmann, sei das Gesetzesvorhaben auf absehbare Zeit gestorben. "Wir müssten Schlange stehen vor den Bundestagsbüros", sagte Abrahamczik, um das verbleibende kleine Zeitfenster für Änderungen zu nutzen.
So sieht der derzeit vorliegende Entwurf beispielsweise vor, dass es künftig keine pauschale Hilfe mehr geben soll für Wohnen, Versorgung und die Förderung von Beschäftigung und Teilhabe. Die Wohnkosten sollen mit einem Aufschlag denen der Sozialhilfe angepasst werden. Fraglich, ob sich Mario Kraus den großzügig geschnittenen Raum mit Küchenecke und den Gemeinschaftsräumen für alle 20 Bewohner dann noch leisten könnte.
Folge könnte auch sein, dass Menschen mit Behinderungen künftig schon in jungen Jahren ins Altenpflegeheim ziehen müssten, weil in der Pflegeversicherung für die ambulante Versorgung selbst in der höchsten Pflegestufe pauschal nur 266 Euro vorgesehen sind - im Gegensatz zu gut 900 Euro für nicht behinderte Patienten.
Es wäre ein Rückschritt auf einem Weg, auf dem die Behindertenhilfe vor allem in den vergangenen Jahrzehnten weit vorangekommen ist. Thomas Bröcheler zeigte Fotos von Bettensälen und erinnerte an das Besuchszimmer am Eingang, in dem sich Bewohner mit ihren Eltern treffen konnten, während ansonsten das Gelände mit einem Zaun umschlossen war. Heute präsentiert sich das Gelände offen, entstehen auf einem Teil 25 neue Wohnhäuser, leben viele der behinderten Menschen in wohnortnahen Außenwohngruppen. Von der Öffnung und dem Bemühen um Inklusion profitiert auch Mario Kraus. Er hat eine Stelle als Bauhelfer auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden.
Auf die Spuren dieser stetigen Weiterentwicklung der sozialen Arbeit begeben sich Vorstand und Abteilungsleiter des Diözesancaritasverbandes aus Anlass der Gründung vor 100 Jahren auf ihrer siebentägigen Jubiäumstour durchs Bistum. Domkapitular Josef Leenders als Vorsitzender erinnerte an den Auftrag dorthin zu gehen, "wo die Menschen leben und zu sehen, was sie brauchen". Der Besuch begann entsprechend mit einem gemeinsamen Frühstück mit den Bewohnern des Appartmenthauses in Geschers Innenstadt, das die Stiftung Haus Hall vor wenigen Jahren selbst gebaut hat, weil es auch hier schwierig ist, Wohnraum zu finden. Dies sei eine sehr bereichernde Stunde gewesen, bekannte Leenders. Man habe erlebt, was die Menschen hier mit viel Kreativität und Energie selbst schaffen könnten.
Humorig und in einfacher Sprache hatte Thomas Bröcheler die Gäste begrüßt. Der Diözesancaritasverband sei "Weltmeister in Besprechungen" und schreibe viele Papiere. Aber das führe auch zu guten Ergebnissen, wenn zum Beispiel die Beschäftigten in den Werkstätten am Ende des Monats ein paar Euro mehr auf dem Gehaltskonto hätten. Nach dem Frühstück und einer Wanderung von der Konrad-Adenauer-Straße zum Stiftungsgelände erlebten die Besucher einen lebendigen Gottesdienst, der von Karl Wensik und Josef Leenders konzelebriert wurde.
102-2016 (hgw) 4. September